Montag, 22. Januar 2024

Über Ausbeutung

Dialogische Mitteilungen aus Wittenberg Nr. 7 aus 24 vom 22.1.2024 

Gespräch mit Dr. Wilhelm Rettler

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Der Gebrauch des Wortes Ausbeutung ist allgemein und in den Medien zurückgegangen. Von Ausbeutung wird noch bei unzumutbaren Arbeitsverhältnissen, Verstößen wegen Arbeitsschutzbestimmungen oder Unterlaufen der gesetzlichen und tariflichen Mindestlöhne, kurz bei exzessivem Verhalten des Kapitalisten gesprochen. Den Ausdruck Arbeitgeber verwenden wir bewusst nicht, weil es doch der Arbeiter ist, der seine Arbeit gibt. Herr Dr. Rettler ist der Auffassung, dass über die Exzesse hinaus die Ausbeutung in unserer Gesellschaft weit verbreitet ist. Die Einsicht sprach darüber mit Herrn Rettler.

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Die Einsicht: Herr Rettler, ist Ausbeutung in Arbeitsverhältnissen der Normalzustand?

Herr Rettler: Ja, das ist richtig.

Die Einsicht: Aber die meisten Beschäftigten, zumal diejenigen, die einen guten Lohn erhalten, empfinden das doch nicht so.

Herr Rettler: Das mag sein, aber Ausbeutung ist nichts Subjektives, sondern das Ergebnis eines ökonomischen Gesetzes, das Karl Marx entdeckt hat. Dieses Gesetz ist die Mehrwerttheorie.

Die Einsicht: Können Sie uns diese Theorie erklären?

Herr Rettler: Die Mehrwerttheorie ist kompliziert. Ich kann nur eine vereinfachte Darstellung geben.

Die Einsicht: Na, dann fangen Sie mal an.

Herr Rettler: Im Kern geht es um die Frage, wie der Kapitalist es schafft, im Produktionsprozess mehr Werte herzustellen, als er vorher hineingesteckt hat. Niemand würde doch Geld investieren, wenn er nicht hinterher nicht seine Produkte zu einem höheren Preis verkaufen könnte.

Die Einsicht: Das leuchtet ein. Wo kommt der Gewinn her?

Herr Rettler: Vor Marx dachten die Ökonomen, der Kapitalist würde von den Arbeitern die Arbeit kaufen. Auf dieser Grundlage war der Mehrwert nicht erklärbar. Marx fand heraus, dass der Kapitalist den Arbeitern nicht die Arbeit abkauft, sondern ihre Arbeitskraft. Der Wert der Arbeitskraft bestimmt sich wie der Wert jeder Ware danach, was zu ihrer Herstellung notwendig ist. Für die Ware Arbeitskraft ist das der Betrag, den der Arbeiter für sich und seine Familie zum Leben braucht. Das besondere der Ware Arbeitskraft besteht darin, dass sie Werte schafft. Sie ist die einzige Ware, die so etwas kann.

Die Einsicht: Können Sie ein Beispiel dafür sagen?

Herr Rettler: Nehmen wir an, der Kapitalist lässt ein Produkt X herstellen. Er kauft dafür Rohstoffe für 100,- Euro und setzt einen Arbeiter, den er mit 50,- Euro bezahlt, ein. Angenommen der Arbeiter arbeitet zehn Stunden. Das Produkt verkauft der Kapitalist für 200,- Euro. Der Mehrwert, der dem Kapitalisten zufließt, beträgt 50,- Euro.

Die Einsicht: Ist das denn nicht Betrug gegenüber dem Arbeiter?

Herr Rettler: Nein, der Kapitalist bezahlt dem Arbeiter das, was seine Arbeitskraft wert ist.

Die Einsicht: Ist es denn immer so, dass der Kapitalist beim Kauf der Ware Arbeitskraft ein gutes Geschäft macht?

Herr Rettler: Nein, stellen Sie sich mal vor, es kommt in einem Betrieb zum Stillstand der Produktion, etwa weil die Stromversorgung ausfällt. Dann muss der Kapitalist nach deutschem Arbeitsvertragsrecht den Arbeiter bezahlen, obwohl er nicht arbeiten kann. Das ist ein Ausnahmefall. In der Regel erzielt der Kapitalist bei der Beschäftigung von Arbeitern Mehrwert und eignet sich so die Ergebnisse fremder Arbeit an.

Die Einsicht: Kann man so etwas denn auch als Ausbeutung bezeichnen?

Herr Rettler: Ausbeutung ist für mich kein moralisches Unwerturteil, sondern eine ökonomische Bewertung. Weil unsere Gesellschaft auf der Aneignung der Produkte fremder Arbeit beruht, finde ich die Bezeichnung Ausbeutergesellschaft richtig.

Die Einsicht: Herr Rettler, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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